16.02.2021

Lehrstellenmarkt: Die Ruhe vor dem Sturm?

Arbeitsleben

Im Aargau sind Anfang 2021 mehr Lehrstellen ausgeschrieben als vor einem Jahr, und die hiesigen Firmen machen sich zunehmend Sorgen, die richtigen Lernenden zu finden. Doch Experten gehen davon aus, dass sich das Angebot wegen Corona deutlich schmälern wird.

«Coronavirus befällt Aargauer Lehrstellen-Markt» lautete eine Schlagzeile im April 2020. Nur Monate später, im August 2020, titelte die Aargauer Zeitung: «Coronakrise kann Lehrstellensuche nichts anhaben – zumindest in der Deutschschweiz». Widersprüchliche Aussagen, und dies noch vor dem Ausbruch der zweiten Welle im Herbst und Winter. Doch wie sieht die Situation Anfang 2021 aus, bevor die diesjährigen Volksschulabgänger*innen ihr letztes Semester an der Oberstufe antreten?

Auf der ersten Blick nicht so schlecht, wenn man einige aktuell verfügbare Zahlen betrachtet:

  • Im kantonalen Lehrstellennachweis LENA finden sich im Januar gegenüber dem Vorjahresmonat 13 Prozent mehr ausgeschriebene Lehrstellen. Auch waren Anfang 2021 erstmals mindestens gleich viele Lehrstellen besetzt wie frei, nachdem sich die Zahlen in den vergangenen Monaten sukzessive angenähert hatten – eine zu erwartende Entwicklung im Jahresverlauf mit Lehrbeginn jeweils nach den Sommerferien.
  • Im «KMU-Barometer», einer regelmässigen Umfrage des Aargauischen Gewerbeverbands, bezeichneten die teilnehmenden Firmen «zu wenig (qualifizierte) Lernende» als zweitgrösste Sorge (nach «zu viel administrativer Aufwand»). Im zweiten Semester 2020 war die Häufigkeit der Nennung dieses Problems im «Sorgenbarometer» von 39 auf 50 Prozent hochgeschnellt. Der «zunehmende Internethandel» (drittgrösste Sorge) macht den hiesigen Gewerbetreibenden deutlich weniger Kummer als der Lernendenmangel.
  • Das Monitoring Lehrstellen der Task Force «Perspektive Berufslehre 2020», die sich unter Federführung des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) dafür einsetzt, «dass trotz Corona-Pandemie möglichst viele Jugendliche eine Lehrstelle finden», zählte im Oktober rund 78 500 abgeschlossene Lehrverträge – ein Wert leicht über den Vorjahreszahlen. Im November wurde der Lehrstellenmarkt in einem Bericht rückblickend als «krisenresistent» bezeichnet.

Bis 20 000 Lehrstellen weniger und «Mismatching»

Die Zahlen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Momentaufnahmen handelt. Die LENA-Statistik wies im Januar wohl nur Lehrstellen mit Lehrbeginn 2021 aus. Allerdings gibt das Departement Bildung, Kultur und Sport unmissverständlich zu bedenken: «Aufgrund der frühen Phase des Ausschreibungs- bzw. Rekrutierungsverfahrens können noch keine Aussagen über die diesjährige Entwicklung des Lehrstellenmarkts gemacht werden.» Darauf wies auch das bundesweite Lehrstellen-Monitoring im Oktober 2020 hin: «Die offenen Lehrstellen 2021 können […] zurzeit noch nicht verlässlich ausgewiesen werden.» Dies deshalb, weil in den Spätsommer- und Frühherbstmonaten auch noch offene Lehrstellen mit Lehrbeginn 2020 erfasst wurden: Die Kantone hatten die Frist für den Abschluss eines Lehrvertrags ausnahmsweise bis zu den Herbstferien verlängert, um den vom ersten Lockdown im Frühling besonders gebeutelten Branchen etwas Luft zu verschaffen.

Und um den Schulabgänger*innen ohne Lehrvertrag im Sommer eine Zwischenlösung zu ersparen. Darauf wies Bildungsökonom Stefan C. Wolter im September in einem Interview mit der WBF-Zeitschrift Die Volkswirtschaft hin. Der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau bezeichnete die Massnahme als «drastisch» und als Hinweis darauf, «wie ernst die Lage ist». Sein Prognosemodell zeige, dass in der Schweiz in den nächsten fünf Jahren mit bis zu 20 000 Lehrstellen weniger zu rechnen sei. Angesprochen auf jene Lehrbetriebe, die trotz Corona keine Lernenden fänden, sagte Wolter, dies spreche nicht gegen eine Krise: «Selbst in einer Hochkonjunktur hat man bis zu 10 000 offene Lehrstellen und gleichzeitig ein Mehrfaches an Jugendlichen, die keine Lehrstelle fanden und in eine Zwischenlösung gingen.» Wenn alle Jugendlichen etwas finden sollten, dann brauche es einen sehr grossen Überhang an Lehrstellen. Ein Grund für dieses «Mismatching» von Angebot und Nachfrage ist laut Wolter die Geografie: Die passende Lehrstelle liegt für die Jugendlichen unter Umständen viel zu weit weg. Hinzu kommen unbeliebte Berufe und solche, die (zu) hohe schulische Leistungen voraussetzen.

Nicht auf die Traumstelle warten!

Auf den Lehrstellenmarkt habe die Konjunktur eigentlich einen kleineren Einfluss als die Bevölkerungsentwicklung, so Wolter. Doch die Corona-Krise dürfte aufgrund ihres Ausmasses einen grösseren Impact haben, und mit den steigenden Schüler*innenzahlen werde die Lehrstellensituation gleich doppelt herausgefordert. Dem pflichtet der Bericht der Task Force «Perspektive Berufslehre 2020» bei: «Die Rezession und die demographisch bedingte Zunahme von Absolventinnen und Absolventen der obligatorischen Schule können dazu führen, dass sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt künftig verschärft.»

Der Bildungsökonom rät Jugendlichen deshalb, nicht auf die Traumstelle zu warten, und betont, die Wahl des Lehrberufs sei dank unseres flexiblen Bildungssystems überhaupt nicht entscheidend für das weitere Berufsleben. Wenn die Lehrstellen-Suchenden sich dies zu Herzen nehmen, erhöhen sie nicht nur ihre Chance, eine Lehrstelle zu ergattern, sondern könnten auch den Sorgen der aargauischen Gewerbetreibenden etwas entgegenwirken.

Auch auf Work Life Aargau sind offene Lehrstellen zu finden. Und in unserer Story So putzen sich Lehrbetriebe für Lernende heraus sehen Sie, was die rund 7500 Betriebe im Aargau tun, um jungen Bewerber*innen zu gefallen.

Autor: CH Media

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